Schulprojekt der ÄGGF mit 1A-Award ausgezeichnet
Preis für hautnahe Gesundheitsbildung
Beim Sexualkundeunterricht kommt das Thema körperliche Gesundheit manchmal zu kurz. Um Schülern die Zusammenhänge zu erklären und sie in dieser Richtung weiterzubilden, hat die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung e.V. (ÄGGF) ein Projekt ins Leben gerufen, bei dem sie Schulen besucht. Dafür wurde der Verein mit dem 1A-Award ausgezeichnet. Ein Interview mit der Vorsitzenden.
Frau Dr. Kramer, Sie bringen „Gesundheitsbildung ins Klassenzimmer“ – was heißt das genau?
Dr. Heike Kramer: Wir bieten ab der vierten bis zur 13. Klasse entwicklungsbegleitende Gesundheitsbildung durch ärztliche Informationsstunden an – zur Gesundheitsförderung und Prävention vor allem im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, in dem wir als Ärzt*innen in die Schule zu den Schüler*innen vor Ort gehen.
Wie sieht das konkret aus?
Dr. Kramer: Dazu trennen wir meist die Klassen nach Jungen und Mädchen, gehen in den moderierten Dialog möglichst ohne Anwesenheit von Lehrkräften. So haben die Schülerinnen und Schüler in der Regel 90 Minuten Zeit, Fragen zu stellen, die sie interessieren. Indem wir mit unserer Schweigepflicht einen geschützten Rahmen etablieren, trauen sie sich auch schambesetzte Themen anzusprechen. Einen besonderen Schwerpunkt setzen wir auf Schüler*innen aus bildungsfernen Milieus oder mit Migrationshintergrund.
Wann wurde diese Idee geboren?
Dr. Kramer: Die Idee kam 1952 von der Gynäkologin Dr. Judith Esser-Mittag, der Gründerin der ÄGGF. Sie war übrigens zuvor auch schon entscheidend bei der Entwicklung des o.b.-Tampons beteiligt.
Für welche Werte steht der Verein ÄGGF?
Dr. Kramer: Wir möchten eine gesundheitliche Chancengleichheit ermöglichen durch verlässliche, evidenzbasierte Wissensvermittlung unter Achtung der ärztlichen Schweigepflicht. Gegenseitiger Respekt, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die Akzeptanz der sexuellen Vielfalt stellen grundlegende Werte unserer Arbeit dar.
Mit welchem Ziel?
Dr. Kramer: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sollen ihren eigenen Körper mit seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen kennen, schätzen und schützen lernen – für einen gesundheitsbewussten und verantwortungsvollen Umgang mit sich und anderen.
Wie finanzieren Sie sich?
Dr. Kramer: Über Projekte z.B. mit Bundes- und Landesministerien, der BZgA, der Deutschen Krebshilfe, Landeskrebsgesellschaften, Krankenkassen und Stiftungen, Spenden und über Projekte unserer Tochter-GmbH, der Gesellschaft für aufsuchende Beratung (GaBe GmbH).
Was müssen Sie tun, damit Sie als Externe in die Klassenzimmer kommen dürfen?
Dr. Kramer: Wir setzen auf die Akzeptanz unserer Arbeit durch die jeweiligen Landeskultusministerien. Hier ist auch der Nachweis der Wirksamkeit unserer Angebote von Belang. Das können wir nachweisen durch unsere Evaluationen – evidenzbasierte Wissensvermittlung unter Berücksichtigung der für die Schule wichtigen Werte und Normen.
Auch die jeweiligen Ärzt*innen vor Ort machen unsere Arbeit in den Schulen bekannt. Durch Infoschreiben, Anrufe und auch durch eine persönliche Vorstellung, Oft folgt dann der Kontakt zu den jeweiligen Fachlehrkräften. Am Ende erhalten wir meist eine Einladung, die Klasse besuchen zu können.
Gibt es für unterschiedliche Jahrgänge unterschiedliche Informationsformate?
Dr. Kramer: Ja, je nach Entwicklungsstand und Auffassungsgabe, aber auch Wissensstand und Interessen unterscheiden sich unsere Informationsangebote in den Klassenstufen. Während in unteren Klassen Themen wie Pubertät und die Sorge um die eigene Normalität wichtig sind, stehen kurz vor dem Abitur oder in der Berufsschule ganz andere Fragen im Mittelpunkt: Verhütungsmethoden, „ungeplant schwanger – was nun?“ und auch Früherkennung von Krebs, die Wichtigkeit von Vorsorgeuntersuchungen.
Wie reagieren Lehrkräfte und die Eltern der Schüler auf Ihr Angebot?
Dr. Kramer: Wenn Lehrkräfte unser Angebot kennengelernt haben, laden Sie uns in der Regel sehr gerne wieder ein und empfinden unsere Arbeit als wertvolle Ergänzung und auch Entlastung, da es für sie oft schwierig ist, die Themen der Sexualität mit den gesamten Klassen zielführend zu besprechen.
Eltern sind bei jüngeren Schülerinnen und Schülern zu Beginn öfter mal skeptisch. Wenn wir dann einen Elternabend anbieten und berichten, was und wie wir die Themen im Rahmen unserer Veranstaltungen ansprechen, sind sie bis auf ganz wenige Ausnahmen sehr angetan.
Wie viele Informationsveranstaltungen führen Sie pro Jahr durch?
Dr. Kramer: Außerhalb von Corona führen wir bis zu 6.000 Veranstaltungen mit bis zu 100.000 Teilnehmenden pro Jahr durch. In der Coronazeit waren es trotz Schulschließungen, Wechselunterricht und anderen Hürden noch immerhin ca. 2.500.
Wie finden Sie Ihre ehrenamtlichen Mitstreiter?
Dr. Kramer: Über Anzeigen und Berichte in den Ärzteblättern, Mund-zu-Mund-Empfehlungen, aber der Ärztemangel macht es leider immer schwieriger, neue Kolleginnen und Kollegen zu finden – jedenfalls für ein längerfristiges intensives Engagement.
Müssen sie eine Extra-Qualifikation haben, bevor sie vor die Klasse treten dürfen?
Dr. Kramer: Sie brauchen unbedingt Interesse am Thema Prävention im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Sie müssen sich tiefer in diese vielfältigen Themen einarbeiten, Freude an der Arbeit mit Heranwachsenden haben. Und sie müssen sich vorstellen können, vor einer größeren Gruppe frei zu sprechen. Didaktisches Geschick und Kommunikationsfreude sind hier sehr wertvoll.
Bei manchen Themen gehen Sie neue Wege, u.a. verteilen Sie einen „Tastikel“. Was ist das?
Dr. Kramer: Bei unseren Tastikeln handelt es sich um ein textiles Hodentastmodell, das wir mit fachlicher Unterstützung der urologischen Uniklinik in Erlangen entwickelt haben. Hiermit können sich Heranwachsende im Rahmen unseres Unterrichts damit vertraut machen, wie sie die Hoden abtasten können und wie sich ein möglicher bösartiger Tumor anfühlen könnte.
Auch die Schülerwelt wird immer digitaler – welche Vorteile bringt das für Ihr Angebot?
Dr. Kramer: Zunächst mal haben Eltern und Lehrkräfte, aber oft auch die Heranwachsenden selbst, das Gefühl, dass alle über unsere Themen schon aufgeklärt sind. Online ist ja so ziemlich alles abrufbar – Wahrheiten, Halbwahrheiten und Unsinn. Aber wenn wir dann diese Themen besprechen mit analogen Modellen nach dem Motto „anschauen und begreifen“, verstehen alle, dass unsere Information und deren Vermittlung eine viel höhere Qualität hat.
Haben sich die thematischen Prioritäten über die Jahre verändert?
Dr. Kramer: Wir müssen uns zunehmend damit auseinandersetzen, dass die Heranwachsenden gerade durch Influencer/innen massiv beeinflusst werden. Es ist sehr schwer, die dort gesendeten Messages durch korrekte Sachinformationen wieder richtigzustellen. Ansonsten haben wir einen großen Schwerpunkt vor allem in den letzten 15 Jahren hinzugewonnen: die Jungengesundheit. Denn die ÄGGF war ursprünglich die Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V. – dies haben wir geändert. Jetzt bieten wir für alle Geschlechter Informationsveranstaltungen an.
Sie bieten auch „Doctorials“ an, was ist das?
Dr. Kramer: Doctorial ist unser Youtube-Kanal, in dem wir erste Filme zum Beispiel zu HPV und der entsprechenden Impfung platziert haben. Dieser Kanal soll in den nächsten Jahren mit weiteren, interessanten Themen ausgebaut werden.
Welche Auswirkungen hatte die COVID-19-Pandemie für Ihr Angebot?
Dr. Kramer: Natürlich konnten wir während des Lockdowns und auch danach deutlich weniger Veranstaltungen in den Schulen durchführen. Ansonsten bemerken wir leider, dass durch Homeschooling und Onlineunterricht die Affinität zum Internet enorm zugenommen hat und ganz offensichtlich auch sehr viele Pornos geschaut wurden. Bei unserem Unterricht bemerken wir eine deutliche Änderung in der Sprache – und besonders bei den Jungen eine deutliche Sexualisierung. Das macht uns Sorgen und hier wollen wir gegensteuern.
Was ist Ihr nächstes Projekt?
Dr. Kramer: In diesem Jahr möchten wir ein weiteres digitales Angebot mit einer neuen Webseite für Heranwachsende starten. Da steckt viel Arbeit gerade im Detail.
Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?
Dr. Kramer: Sehr viel. Wir haben uns sehr darüber gefreut und sind davon überzeugt, dass wir durch diese Bestätigung unserer Arbeit noch bekannter werden. Außerdem hoffen wir, dadurch neue Mitstreiter zu finden. Und natürlich wäre es schön, wenn wir jetzt für unsere ehrenamtliche Arbeit auch mehr Spenden bekommen würden.
Die Preisträgerin
Dr. Heike Kramer ist die 1. Vorsitzende der ÄGGF. Sie lebt und arbeitet in Erlangen (Bayern) und engagiert sich seit 32 Jahren für den Verein. Ein Kommilitone hatte ihr auf einer Hochzeit von der ÄGGF erzählt. Seitdem ist sie mit ganzem Herzen dabei.
Imagefilm des ausgezeichneten Projekts
Mehr Informationen: www.aeggf.de
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Bildquellen: 1 A Pharma