1A-Award 2021,  Arzt

Gewaltopferambulanz Ulm: Professor Dr. Sebastian Kunz mit 1A-Award ausgezeichnet

Opfern eine Stimme geben

Häusliche Gewalt, ein Überfall, Misshandlungen – viele Opfer scheuen danach den direkten Weg zur Polizei. Seit Mai letzten Jahres gibt es in Ulm eine Gewalt­opferambulanz am Institut für Rechtsmedizin. Dort wird ihnen sofort geholfen, ganz ohne Polizei. Aufgebaut hat sie Prof. Dr. Sebastian Kunz. Stellvertretend für das Projekt wurde er jetzt mit dem 1A-Award ausgezeichnet.

Herr Prof. Kunz, Sie haben zuletzt auf Island gearbeitet. Was haben Sie da genau gemacht?

Prof. Dr. Sebastian Kunz: Ich war vier Jahre lang für die Rechtsmedizin im gesamten Land verantwortlich. Von Reykjavik aus habe ich Obduktionen durchgeführt, Gerichtstermine wahrgenommen und die gesamte rechtsmedizinische Arbeit auf der Insel koordiniert.

Von Island nach Ulm – das ist mal eine Veränderung. Was hat Sie an der neuen Aufgabe gereizt?

Prof. Kunz: Meine Frau, unsere beiden kleinen Töchter und ich haben uns auf Island sehr wohl gefühlt. Meine Frau arbeitet allerdings als Rechtsanwältin mit dem Spezialgebiet deutsches Strafrecht. Deshalb war von vornherein klar, dass wir irgendwann zurück nach Deutschland gehen werden. Als ich dann die ausgeschriebene Stelle in Ulm mit ihren Möglichkeiten sah, wusste ich: Das möchte ich gerne
machen!

Wussten Sie von Anfang, dass Sie eine ambulante Gewaltopferambulanz aufbauen wollen?

Prof. Kunz: Ich hatte zuvor bei meiner Station in Stockholm gesehen, wie wichtig eine solche Einrichtung ist. Auch an anderen Standorten konnte ich wertvolle Erfahrungen sammeln. Die Gewaltopfer­ambulanz ist ja ein wichtiger Teil der klinischen Rechtsmedizin, deshalb stand sie ganz oben auf meiner Prioritätenliste.

Wie geht man da strategisch vor?

Prof. Kunz: Wie so oft fehlt es innerhalb der eigenen Strukturen nicht an Unterstützung, Motivation und guten Ideen. Leider scheitern viele wichtige Projekte am Geld. Glücklicherweise haben wir beim Land Baden-Württemberg Gehör gefunden und das Ministerium für Soziales unterstützt unsere Ambulanz jährlich mit einem Betrag von 150.000 Euro. Ohne diese Zuwendungen wäre es nicht möglich gewesen, die Ambulanz aufzubauen und auch zu betreiben.

Alleine schafft man das nicht – wie haben Sie Ihr Team gefunden?

Prof. Kunz: Da ich schon über viele Jahre in der Rechtsmedizin unterwegs bin, habe ich mir ein recht großes Netzwerk mit fähigen Kolleginnen und Kollegen aufgebaut. Einige habe ich gezielt angesprochen, ob sie zu mir nach Ulm kommen möchten. Außerdem wurden Stellen ausgeschrieben – am Ende ist daraus dann ein sehr professionelles und harmonisches Team entstanden.

Woher wissen Opfer, dass es ihre Gewaltopferambulanz überhaupt gibt?

Prof. Kunz: Wir sind mit unserem Projekt sehr offensiv an die Öffentlichkeit gegangen. Es gab Berichte über die neue Gewaltopferambulanz, ich selbst habe viele Interviews gegeben. Auch haben wir Flyer drucken lassen und sie dort ausgelegt, wo wir Menschen in Not vermuten: beim Jugendamt, bei Ärzten, in Frauenhäusern und in Sozialstationen. Wir haben sogar ein ganz kurzes Video produziert, das in Bussen und Bahnen auf die Ambulanz aufmerksam macht.

Ist die Gewaltopferambulanz bei Notfällen rund um die Uhr besetzt?

Prof. Kunz: Genau das ist unser Ziel, aber aufgrund des begrenzten Budgets aktuell nicht zu stemmen. Mittelfristig wollen wir aber genau diesen Service anbieten. Wir wissen aus unserer beruflichen Erfahrung, dass Gewaltopfer in einem Notfall sofortige Hilfe benötigen.

Gibt es Fälle, bei denen es Ihnen schwerfällt, nicht die Polizei zu benachrichtigen?

Prof. Kunz: Grundsätzlich dürfen wir es ja nicht. Es sei denn, die Opfer geben uns ausdrücklich ihre Einwilligung. Andererseits bieten wir mit der Ambulanz genau dieses Angebot: Erste Hilfe für Opfer – ohne Polizei. Natürlich lassen wir die Opfer nicht mit ihren Sorgen alleine. Wir vermitteln sie an Organisationen und Kollegen, bei denen sie konkrete Hilfe bekommen. Wenn sie es denn wollen …

Wie emotional betroffen sind Sie bei den Fällen, vor allem, wenn Kinder beteiligt sind?

Prof. Kunz: Ich bin selbst Vater von zwei kleinen Mädchen, da lässt man solche Fälle automatisch näher an sich herankommen als vorher. Aber auch andere Berufsgruppen müssen mit sehr dramatischen Schicksalen umgehen. Und ganz ehrlich gesagt: Es ist leider ein Teil meines Berufs.

Wie viele Menschen sind seit Mai 2021 mit der Gewaltambulanz in Kontakt getreten?

Prof. Kunz: Es gibt viele Möglichkeiten, mit uns in Verbindung zu treten. Manche rufen an, manche mailen. Dann natürlich der persönliche Besuch zu unseren Sprechstunden. Wenn man es über die ganzen Monate sieht, bearbeiten wir pro Woche etwa fünf Fälle. Da unser Angebot neu ist und viele es noch nicht kennen, wird es zukünftig eher mehr als weniger.

Gewalt gegen Männer – kommt auch das vor?

Prof. Kunz: Auch da gibt es Fälle, die bei uns landen. Aber natürlich lange nicht so viele wie bei den Frauen.

Wissen die Opfer – gerade jene mit Migrationshintergrund – eigentlich immer, welche Rechte sie in Deutschland haben?

Prof. Kunz: Das ist schon ein Thema bei unseren Untersuchungen. Vor allem Frauen, die mit ihrer Familie aus dem Ausland nach Deutschland gezogen sind, wissen oftmals nicht, dass Gewalt gegen Frauen hier nicht ungestraft bleibt. Da herrscht große Rechtsunsicherheit. Wir versuchen, sie zu informieren – so gut es geht. Manchmal scheitern wir auch an der Sprachbarriere.

Wie hat sich Corona auf das Verhalten der Menschen ausgewirkt – gibt es Auffälligkeiten in der Ambulanz?

Prof. Kunz: Wir sind ja mitten in der Pandemie gegründet worden, daher kann ich das schwer beurteilen. Allerdings ist klar: Wenn im Lockdown mehrere Menschen lange Zeit auf engem Raum miteinander leben, wird das Gewaltpotenzial jedenfalls nicht geringer. Andererseits wird Gewalt dann auch öffentlich weniger wahrgenommen. Wer nicht aus der Wohnung geht, wird auch nicht gesehen …

Thema Kindesmisshandlung – wie holen Sie ein Opfer aus der Familie?

Prof. Kunz: Da haben wir hier in Ulm ein sehr gut funktionierendes System in der Kinderschutzgruppe. Dort werden dann gerade auf der klinischen Seite Vorkehrungen getroffen. So wird bei kritischen Situationen meist erwogen, Kinder über Nacht noch zur Beobachtung im Krankenhaus zu lassen. In dieser Zeit kann man dann die Behörden informieren und weitere Schritte einleiten.

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung?

Prof. Kunz: Das erfüllt uns natürlich mit Stolz. Nicht nur, weil es unsere Erste ist. Wir sehen es als Wertschätzung für unsere Arbeit und Verpflichtung, unseren Weg genau so weiterzugehen. Außerdem bekommt unsere Ambulanz durch den Award eine größere Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

Wie geht es 2022 weiter?

Prof. Kunz: Wir sind überglücklich, dass das Land Baden-Württemberg unsere Ambulanz auch in diesem Jahr wieder finanziell unterstützt. Den Vertrag durfte ich in der letzten Woche unterschreiben. Das große Ziel ist es, unser Angebot für Gewaltopfer rund um die Uhr anzubieten.

Prof. Dr. Sebastian Kunz mit Rechtsmedizinerin Anna Müller (rechts) und Stefanie Heinz, Marketing-Leiterin von 1 A Pharma.

 

Der Preisträger

Prof. Dr. Sebastian Kunz (41) ist in Gräfelfing (Bayern) geboren und leitet die Rechtsmedizin in Ulm seit April 2020. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Neben seinem Beruf produziert er mit seiner Frau, die als Rechtsanwältin arbeitet, eine Podcast-Serie unter dem Titel „True Crime Lifehacks“. Dort werden wahre Fälle, die beide erlebt haben, sowohl von der rechtsmedizinischen als auch von der juristischen Seite beleuchtet – frei nach dem Motto: von den Toten fürs Leben lernen. Erhältlich u.a. bei Spotify, Deezer und Julep.

Bildquellen: 1 A Pharma